Rottkäppchen
Es war einmal ein dunkler Wald. Rotkäppchen hatte für gewöhnlich keine Angst alleine im Dunkeln
spazieren zu gehen, aber diesmal schien mit dem Wald irgend etwas nicht in Ordnung zu sein. Die
kahlen Äste der Bäume ragten wie drohende Finger in den bewölkten Himmel; kein Stern war durch
die dichte Wolkendecke auszumachen. Der Boden war gefroren, Rauhreif bedeckte die Äste und
abgefallenen Blätter, es knackte und knirschte unter Rotkäppchens Füßen wie in einem
zweitklassigen Horrorfilm.
Schließlich erreichte sie die windschiefe Holzhütte mitten im Wald. Sie öffnete die knarrende Tür; aber
erst als sie die Novemberkälte draußen ausgesperrt hatte und im Ofen ein gemütliches Feuerchen
entzündet hatte, fiel die Spannung von ihr ab und sie entspannte sich bei einer Tasse Tee und einem
Buch in ihrem Schaukelstuhl.
Sie war fleissig gewesen heute. Jede Menge gute Taten, Großmutter wird stolz auf sie sein! Zuerst
hatte sie einem Bettler eine warme Suppe gegeben, der arme Kerl war völlig durchgefroren und hatte
dankbar den ganzen Topf ausgelöffelt. Von dem Fliegenpilz, den sie mitgekocht hatte, hatte er sicher
erst noch ein paar wunderschöne Halluzinationen bekommen, ehe der ausgemergelte Körper von
Fieber und Schüttelfrost gepeinigt schließlich seinen kümmerlichen Rest Leben ausgehaucht hatte.
Sie hatte ihn dem Wolf überlassen und war weiter gegangen, um in der Stadt Einkäufe zu erledigen.
Beim Metzger kaufte sie etwas Wurst und setzte in einem unbeobachteten Moment eine handvoll ihrer
selbstgezüchteten Maden zwischen die frischen, rosigen Schweinebraten. Beim Bäcker erwarb sie
einen Laib Brot und öffnete unauffällig die Dose mit den Kakerlaken, die sogleich -das grelle Licht
schmerzte in ihren dummen, schwarzen Augen- um die Wette in die nächste dunkle Ecke flitzten.
Das war sehr lustig und Rotkäppchen schlenderte gut gelaunt weiter, ein fröhliches Lied auf den
Lippen.
Auf dem Heimweg las sie den Wolf auf, der mit blutverschmierter Schnauze noch immer in den
Eingeweiden des Bettlers wühlte. Zusammen wanderten sie über die abgeernteten Felder und
gefrorenen Wiesen. Sie stiessen auf einen Adler, der sich in einem ihrer Vogelnetze verheddert hatte.
Was für ein Fang! Aber der Wolf war schon satt und daher begnügte sie sich damit, dem Adler noch
den anderen Flügel zu brechen und überliess ihn dann seinem Schicksal. Als sie in den Wald
einbogen, fröstelte sie bereits und sie beeilte sich, den Wolf in den dunklen Verschlag zu sperren, den
sie eigens für ihn gebaut hatte. Frierend lief sie nach Hause, und da saß sie nun in ihrem gemütlichen
Schaukelstuhl.
Zufrieden löffelte sie an ihrem Tee. Gleich würde sie Großmutter von ihrem erfolgreichen Tag
berichten.
Sie schüttete etwas saure Milch in einen Napf und gab noch etwas grünschimmliges Brot dazu. Dann
lief sie ums Haus, wo sie Großmutter in den ehemaligen Ziegenstall eingesperrt hatte. Der
durchdringende Ammoniakgeruch bereitete ihr Übelkeit und sie schalt Großmutter, daß sie immer in
die Ecken urinierte. Heerscharen von Schmeißfliegen fielen sofort gierig über Großmutters
Festtagsmahlzeit her, als Rotkäppchen den verdorbenen Inhalt auf den verschmutzten Boden
schüttete. Schau, Großmutter, heute ist ein guter Tag , da habe ich dir etwas besonders Feines
mitgebracht! rief Rotkäppchen aus. Großmutter wimmerte nur noch und gab auch sonst nur
unartikulierte Laute von sich, als sie versuchte, die Brotsuppe vom Boden zu schlürfen.
Leider gaben die in die Wand eingelassenen Ketten nicht weit genug nach, um an die übelriechende
Mahlzeit heranzukommen. Rotkäppchen juchzte. Mit etwas Glück würde Großmutter noch eine Woche
überleben, das war wirklich gut, denn die letzte Großmutter, die sie mit dem Versprechen, sie zu ihrem
längst verstorbenen Mann zu bringen, aus dem örtlichen Irrenhaus rekrutiert hatte, hatte nicht lange
durchgehalten. Diese hier war deutlich zäher.
Rotkäppchen ging wieder in die warme Stube, schob sich zur Entspannung ein paar heisse Nadeln
unter die Fußnägel und schlief dann den Schlaf der Gerechten. Morgen wartete ein neuer Tag auf sie,
der wieder eine Menge neuer und interessanter Betätigungsfelder bereithielt. Rotkäppchen
schlummerte selig und träumte süß von Eiter und Erbrochenem.
Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute.
Har, har.
November 1999
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