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das fragezeichen

Als sie abends von der Arbeit nach Hause kam, stand das Fragezeichen mitten im Wohnzimmer.

Sie wunderte sich, denn so etwas war bisher noch nicht vorgekommen.

Fragezeichen existierten schriftlich auf Papier, nicht aber ungefähr einen Meter hoch und dreidimensional in einem Wohnzimmer stehend.



Und schon gar nicht in ihrem Wohnzimmer.



Sie setzte sich auf die Couch, schenkte sich einen Whiskey ein, zündete sich eine Zigarette an und dachte nach. So ein Fragezeichen hat schon eine schöne Form, so geschwungen und rund. Als Möbelstück war es jedoch kaum zu gebrauchen. Die vielen Rundungen machten es einem ja unmöglich, eine Topfpflanze darauf zu stellen, geschweige denn einen Fernseher oder so etwas. Eigentlich konnte man noch nicht einmal den ganzen Nippes-Kram draufstellen, der sich so im Laufe eines Lebens ansammelt. Mitten im Wohnzimmer ist ein Fragezeichen nicht nur unpraktisch, sondern auch störend, dachte sie und die steile Falte vertiefte sich zwischen ihren Augenbrauen.

Das muß ich ändern, rief sie und begann damit, es an die Wand zu rücken. Es war sperrig und darüber hinaus auch noch verdammt schwer.

Als es endlich fragend an der Wand stand, kamen ihr Zweifel, ob eine Wohnzimmerwand wirklich der geeignete Aufenthaltsort für ein Fragezeichen sei.
Sie setzte sich wieder auf die Couch, schenkte sich nach, zündete sich noch eine Zigarette an überlegte, wie es wohl in ihr Wohnzimmer gekommen war.

Die Frage erledigte sich von selbst, die Balkontür stand weit offen.

Da sieht man wieder, wohin Unaufmerksamkeit führen kann, dachte sie. In jeder dieser Hochglanz-Polizei-Broschüren konnte man nachlesen, daß der wirksamste Schutz gegen Einbrecher fest verschlossene Fenster und Türen sind. Konnte man aber ein Fragezeichen als Einbrecher bezeichnen? Sie mußte morgens vergessen haben, die Balkontür zu schließen. Man konnte dem Fragezeichen also keine Vorwürfe machen.

Da hatte sie den Salat.

Sie fühlte sich fast für das Fragezeichen an ihrer Wohnzimmerwand verantwortlich und es tat ihr leid, daß sie es, ohne zu fragen, einfach an die Wand gerückt hatte. Vielleicht wollte es da gar nicht stehen, sondern lieber mitten im Zimmer, wo auch die Sonne hinkam. Ob es wohl immer schon so groß gewesen ist, fragte sie sich, oder mußte es auch erst wachsen?
Wie alt bist du, fragte sie jetzt laut und deutlich das Fragezeichen an der Wohnzimmerwand zwischen Vitrine und Bücherregal.

Zu ihrer großen Verwunderung antwortete es.

Ich bin so alt wie die Menschheit, sagte es.

Ihr Mund stand weit offen. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Sie schloß ihren Mund wieder, schüttelte den Kopf, stand auf, ging zum Barschrank, schenkte sich einen guten Schluck des guten Jack ein, kippte ihn hinunter, schüttelte sich, schloß den Barschrank, setzte sich in den Fernsehsessel und zündete sich eine weitere Zigarette an.

Nachdem sie eine Zigarettenlänge lang auf den ausgeschalteten Fernseher gestarrt hatte, hatte sie sich mit der Situation abgefunden.

Sie drehte sich zum Fragezeichen hin und fragte, ob es auch einen Kaffee haben wollte, einen starken Kaffee, oder lieber Tee, Pfefferminz oder Hagebutte.

Ich hätte lieber eine Tasse Kakao, sagte es, aber heiß.

Sie ging in die Küche, setzte Kaffee auf und stellte den Kakao in die Mikrowelle. Fasziniert beobachtete sie den Drehteller.

Nach zwei Minuten lauschte sie dem Ton der Mikrowelle, der das Ende des Erhitzungspro-
zesses verkündete. Sie wollte mit dem Kakao wieder zurück ins Wohnzimmer gehen, aber das Fragezeichen stand schon hinter ihr. Sie ließ die heiße Tasse fallen.

AU, schrie das Fragezeichen, ICH HABE MICH VERBRANNT, sagte es, hüpfte auf und ab und verteilte den klebrigen Kram in der ganzen Küche. Zum Glück ist die Küche gefliest, seufzte sie, holte einen Putzlappen und wies das Fragezeichen an, still zu stehen.

Es gehorchte und blieb in der Ecke, den Rücken an die Wand gepresst, stehen.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, wunderte sie sich über den seltsamen Traum, den sie gehabt hatte. Sie schüttelte ihren brummenden Schädel und wollte gerade ins Badezimmer, als sie bemerkte, daß ihr Traum Kaffee aufgesetzt hatte.

Sie drehte sich von der Badezimmertür weg und hin zum Barschrank und tat, was man tun mußte, wenn ein Fragezeichen in der Küche stand und Kaffee kochte.


Die ganze Sache glitt ihr aus den Händen.

Zuerst war sie paralysiert aufgrund der Umstände, ein paar Tage später wurde sie jedoch wütend. Das Fragezeichen hatte sich in der ganzen Wohnung breitgemacht und ständig ließ es seinen Punkt irgendwo liegen.

Es wurde ihr zu bunt.

Geh jetzt, sagte sie, du bringst mein Leben durcheinander, deine Unordnung macht mich ganz
rasend, sagte sie, ich habe die Nase voll, ich will dich nicht mehr, und: geh dahin, wo du
hergekommen bist.

Als man sie dann nachmittags mit zerschmetterten Knochen und gebrochenem Genick auf dem harten Betonboden im Hinterhof fand, war sie schon kalt.

Wahrscheinlich ein Unfall, sagte die Polizei.

So mußte es ja kommen, sagten die Leute, und warfen sich vielsagende Blicke zu.
Die alte Säuferin tickte ja schon lange nicht mehr richtig, flüsterten sie sich hinter vorgehaltener Hand beim Bäcker oder vor dem Obstladen zu.

Keiner konnte sich vorstellen, daß so ein Fragezeichen einen in den Wahnsinn treiben kann.

Dennoch ist es so, glauben Sie mir.

Ich habe gestern vergessen, das große Fenster zu schließen.


Juli 1997


. keine fragen mehr .

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